4         Diskussion

4.1      Leitlinienangebote der Tumorzentren

Gerade bei Therapieempfehlungen für die Praxis ist es wichtig, dass die Informationen einschließlich ihrer ausführlichen, wissenschaftlich fundierten und dennoch verständlichen Begründungen mit möglichst geringem Aufwand zugänglich sind. Dabei sind die individuellen Möglichkeiten und Gewohnheiten der Adressaten zu berücksichtigen, insbesondere in Bezug auf das Internet und den Zugang zu Fachbibliotheken. Vermutlich sind Druckwerke der Tumorzentren in Kleinauflagen (Fotokopien, Broschüren), die auf Fortbildungsveranstaltungen verteilt werden, ein wichtiges, leicht zu unterschätzendes Mittel der Wissensverbreitung.

Das Internet stellt nach einer im Studie aus der Deutschschweiz [KOLLER et al., 2001] mit Datenerhebung im Mai 2000 an 2009 Ärzten der Primärversorgen (bei einer Rücklaufquote von 55 % bzw. 1103 Fällen) für 14 % der Teilnehmer eine regelmäßig genutzte und nützliche Informationsquelle dar. Über 40 % gaben an, das Internet gelegentlich als Informationsquelle für medizinische Probleme zu nutzen. Immerhin 75 % dieser Ärzte verfügten über einen Internetzugang. Andere Informationsquellen, wie z.B. direkter Kontakt zu Fachärzten (80 %) wurden häufiger angegeben. Ähnlich aktuelle Daten liegen aus Deutschland nicht vor. Obwohl die Bewertung von KOLLER und Kollegen einen eher negativen Tenor hat, ließe sich der gegenwärtige Stand der Verbreitung dieses vor 10 Jahren in Europa noch praktisch unbekannten Mediums (Gründung der DENIC [http://www.denic.de], und damit Einführung der deutschen Internetadressen war 1991) ebenso als weit fortgeschritten, aber noch nicht abgeschlossen bewerten.

Vorliegend wurden insbesondere die Internetangebote der Tumorzentren untersucht. Dies kann damit begründet werden, dass ein großer Teil der Ärzte bereits über einen Zugang zu diesem kostengünstigen und flexiblen Medium verfügt, diesen aber noch nicht ausreichend nutzt. Natürlich haben die Internetangebote auch den Vorteil, mit relativ wenig Aufwand und Kosten beziehbar und untersuchbar zu sein.

Die ADT versteht laut Satzung als Teil ihrer Aufgaben die „Unterstützung der Entwicklung leistungsfähiger Konzepte und Verfahren für die Nachsorge und Rehabilitation von Tumorpatienten“, die „Gemeinsame Erarbeitung einschlägiger diagnostischer und therapeutischer Empfehlungen“ [ADT, 1998] und die „Sicherstellung der Diagnose, Behandlung und Nachsorge unter Berücksichtigung aller fachlichen Gesichtspunkte und der jeweils neusten wissenschaftlichen Erkenntnisse“ [SAUER, 1999]. Damit besteht ein klarer Bezug zu den Diagnose-, Therapie- und Rehabilitationsleitlinien, in denen die neusten wissenschaftlichen Erkenntnisse aufgearbeitet werden. Allerdings wird die ADT dabei nur unterstützend und koordinierend tätig; die eigentliche Entwicklung und Umsetzung der Empfehlungen und Leitlinien soll von den Mitgliedern, also von den regionalen Tumorzentren geleistet werden [ADT, 1998].

Sauer führte 1999 eine Umfrage bei den Tumorzentren der ADT durch. Die dort angegebenen Zahlen der jeweils vorhandenen Leitlinien scheinen nach den vorliegenden Ergebnissen nur bedingt nachvollziehbar. 18 der Zentren geben an, mehr als 10 Leitlinien ausgewählt und regional adaptiert zu haben sowie durch eine Expertenkommission pflegen zu lassen. 7 dieser Zentren sind namentlich genannt, wovon nur das Tumorzentrum Zwickau nicht im Internet vertreten ist. Essen und Göttingen erwähnen im Internet jedoch weniger als 10 Leitlinien (5 bzw. keine). 13 Zentren gaben die Selbstauskunft, sich auf 1 bis 10 Leitlinien geeinigt zu haben, und diese adaptieren und pflegen zu lassen. Damit haben 31 von 43 (72 %) der Tumorzentren eigene Leitlinien erstellt. Im Internet erwähnen folglich 14 nicht, dass sie über Leitlinien verfügen. Da auch von Ärzten in den Einzugsgebieten der Tumorzentren nicht realistisch erwartet werden kann, dass sie zu allen entsprechenden Veranstaltungen der Tumorzentren kommen können, wo diese Leitlinien möglicherweise als Kopie ausgegeben werden, oder eventuell regional verbreitete Hinweise in Organen der Ärztekammern oder durch Anschreiben wahrnehmen und sich bei Bedarf daran erinnern, schadet es sicherlich der Verbreitung dieser aufwendig erstellten Empfehlungen, wenn sich nicht einmal ein Hinweis auf ihre Existenz im Internet findet.

4.2      Möglichkeiten für effizientere Informationsangebote

Das lückenhafte Leitlinienangebot der Tumorzentren im Internet erklärt sich möglicherweise aus dem noch fehlenden Wissen einiger ihrer Mitarbeiter über die einfachen und kostengünstigen Möglichkeiten der Bereitstellung von Dokumenten über dieses Medium. Auch sind die Wege zur Aktualisierung und Erweiterung der Informationsangebote vermutlich noch nicht ausreichend etabliert. Bei den 22 von Universitäten verwalteten Angeboten wäre es vermutlich in der Regel der praktikabelste Weg, dem Rechenzentrum eine e-Mail mit einem Dokument zuzusenden, und darin die Stelle auf den Seiten des Tumorzentrums anzugeben, wo ein Verweis auf dieses Dokument stehen soll. Nach eigenen Erfahrungen werden auf diese Weise kleinere Änderungen und Korrekturen innerhalb weniger Minuten durchgeführt. Die großen Internet-Dienstleister bieten für ihre Kunden Werkzeuge und Anleitungen zur eigenen Bereitstellung von Information im Internet an. Damit können Dokumente auf dem Internetrechner des Anbieters prinzipiell genauso kopiert, verändert und überschrieben werden, als lägen sie auf einer lokalen Festplatte. Verträge mit kommerziellen Anbietern, bei denen jede Änderung einzeln in Rechnung gestellt wird, sind für die Aufgaben von Tumorzentren sicher ungeeignet. Ebenso sollte es nicht (siehe Tumorzentrum Halle) Aufgabe eines Praktikanten sein, ein solches Angebot zu erstellen, ohne dass danach eine Einweisung eines fest angestellten Mitarbeiters in die zum Ändern der Dokumente notwendigen Schritte erfolgt. Der letzte abrufbare Infobrief ist seit längerem nicht mehr aktuell (Anfang 2000). Besonders ungünstig ist es, wenn ein veraltetes Angebot noch unter einer Internetadresse erreichbar ist, auf die von anderen Tumorzentren weiterhin verwiesen wird. Konkret verwies das Tumorzentrum Mainz auf die Adresse http://www.stadt-dessau.de/klinikum/vera.htm für das Tumorzentrum Dessau. Dort fanden sich Inhalte, die vermutlich von 1998 stammten. Auf das aktuelle Informations­angebot (http://www.klinikum-dessau.de/­Fachbereiche/­Tumorzentrum/­tumorzentrum.htm) gab es keine Verweise von der ADT oder anderen Tumorzentren. Die Adresse musste telefonisch erfragt werden.

Da die Dokumente in der Regel als Dateien von Textverarbeitungsprogrammen vorliegen, ist eine Konvertierung in HTML (Hypertext Markup Language, die im Internet heute am weitesten verbreitete Seitenbeschreibungssprache zur Darstellung von formatiertem Text mit Bildern) ohne wesentlichen Aufwand möglich, aber auch das Format der verbreiteten Textverarbeitung Microsoft Word, in dem die Tumorzentren Magdeburg und Würzburg ihre Leitlinien verbreiten, kann von einem großen Teil der Nutzer direkt gelesen werden. Eine häufig genutzte Alternative mit kostenfreien Programmen zur originalgetreuen Darstellung und zum Druck der Dokumente auf beinahe allen heute üblichen internetfähigen Computersystemen ist das ebenfalls kommerziell entwickelte PDF-Format (Portable Document File); um Dokumente aus Textverarbeitungen unter dem Betriebssystem Microsoft Windows in dieses Format umzusetzen, ist ein spezielles Programm erforderlich (Acrobat®, www.adobe.com, Kosten ca. € 130; für das Betriebssystem Linux sind Werkzeuge mit dieser Funktionalität gratis erhältlich). Das ISTO, die DKG und die Tumorzentren Berlin, Heidelberg-Mannheim, Regensburg und Tübingen bieten die vorliegend untersuchten Leitlinien in diesem Format an.

Dabei sollte auch bedacht werden, dass es der Zielgruppe, also hauptsächlich klinisch tätigen Ärzten, in aller Regel weniger auf eine grafisch beeindruckende Präsentation, sondern mehr auf Aktualität, Übertragungsgeschwindigkeit und vor allem auf gute Inhalte der Texte ankommt. Dies lässt sich durch einfach zu bearbeitende und im Format flexible schlichte HTML-Dokumente leichter erreichen als durch komplexe Internetseiten, die verschachtelte Rahmen und viele Grafiken verwenden. Solche komplexer aufgebauten Seiten bereiten auch regelmäßig Probleme bei der Darstellung in verschiedenen Browsern, Speicherung (viele, miteinander verbundene Dateien) und beim Druck der Inhalte (wegen fehlerhafter Anpassung an Seitengröße und Schwierigkeiten bei der Darstellung von Farben und Grafiken), was auf Anwender demotivierend wirkt. Nach der bereits oben erwähnten Studie von Koller und Mitarbeitern [2001] wird als Hinderungsgrund für die Anwendung des Internets bei der Patientenversorgung angegeben, dass sie zu zeitaufwendig sei. Dies sollte zum Anlass genommen werden, die jeweils übertragene Information auf ein Mindestmaß zu beschränken, und insbesondere mit der Übertragung von Bildern auf Seiten, die der Navigation oder Informationssuche dienen, sparsam zu sein. Falls eine visuell ansprechende, reich bebilderte Präsentation als Imagefördern betrachtet wird, sollte eine alternative Einstiegsseite zum „rohen“ Datenangebot für eilige Nutzer angeboten werden, damit bei Nutzung von üblichen Internetzugängen (gegenwärtig Modem oder ISDN) nicht störende Reaktionszeiten erreicht werden. Die tolerablen Verzögerungszeiten können zumeist nur empirisch ermittelt werden, da eine Vielzahl von Faktoren in die subjektive Wahrnehmung von Wartezeiten einfließen. Der dabei zu investierende methodische Aufwand ist je nach technischen Voraussetzungen, Nutzerzahl und Einsatzgebiet sehr variabel [STARY, 1997].

Unter den Seiten der deutschen Tumorzentren fallen einige der von Universitäten verwalteten (z.B. Halle und Jena; Adressen siehe Tabelle 1) durch ein schlichtes, zweckdienliches Design positiv auf.


4.3      Mögliche Indikatoren für die Verbreitung von Leitlinien

Wie in der Einleitung dargestellt wurde, ist insbesondere die Erfassung von Inzidenzen sowie diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen durch Register noch sehr lückenhaft (Kapitel 1.2.5, Seite 14). Besser ist die Situation insbesondere bezüglich der Mortalität, aber auch der Inzidenz (Kapitel 1.2.4, Seite 10). Unter der Annahme von Prognosegleichheit kann zwar aus der Mortalität eine Inzidenz geschätzt werden [COLONNA et al., 1999]. Dieser Schätzwert ist beispielsweise für Planungsaufgaben in der regionalen Versorgung sinnvoll. Er kann aber naturgemäß keine Aussage zu Prognoseunterschieden und damit zu eventuellen Unterschieden in der Versorgungsqualität machen.

Routinemäßig erhobene Registerdaten konnten auch bei im internationalen Vergleich vorbildlicher Registrierung nicht ohne wesentliche externe Zusatzinformationen für verlässliche Aussagen zur Leitlinienimplementierung verwendet werden. Beispielsweise behandelt keine der 435 bisherigen Publikationen, die das SEER-Projekt betreffen, also die weltgrößte Tumordatenbank, die in ihren frei zu Forschungszwecken verfügbaren auf einzelne Patienten bezogenen Daten weit über die Erfordernisse eines epidemiologischen Krebsregisters hinausgeht, den Themenbereich Leitlinien.

Insbesondere geographische und zeitliche Mortalitäts- und Prognoseunterschiede [Arbeitsgemeinschaft Bevölkerungsbezogener Krebsregister in Deutschland, 1997; HÖLZEL et al., 1996;  SLATTERY et al., 1996; COLONNA et al., 1999] haben aufgrund des großen Einflusses von diversen Störgrößen bisher nicht zu wesentlichen Erkenntnissen über umschriebene Defizite in Behandlungsprozessen geführt, sie können aber durchaus die Brisanz von bereits erkannten Defiziten deutlich machen [SIKORA, 1999]. Die unerklärten räumlichen und zeitlichen Differenzen und Trends liegen oft über den von Therapien zu erwartenden Effekten; so unterscheiden sich die unterschiedlichen Therapieschemata beim Lungen- und Kolonkarzinom zumeist bezüglich der Einjahres-Mortalitätsrate um etwa 10 %, jedoch aufgrund der hohen Langzeitmortalität nicht nachweisbar bezüglich des mehrjährigen Überlebens [FIGUEREDO et al., 1997]. Solche geringen Unterschiede sind in den regional und zeitlich deutlich stärker schwankenden Mortalitätsdaten nicht nachweisbar, denn beispielsweise unterscheidet sich die Mortalität an kolorektalen Karzinomen innerhalb Europas um den Faktor 3,2 bei Männern mit einer Rate von 35,4 pro 100 000 in Dänemark und 11,0 pro 100 000 in Griechenland (altersstandardisiert auf Europastandard) [BLACK et al., 1997]. Ob der Inzidenzunterschied zwischen diesen beiden Ländern mit „nur“ dem Faktor 2.8 dabei ein klarer Hinweis auf eine schlechtere Versorgung der Patienten in Griechenland ist, darf sicher nicht unkritisch angenommen werden.

Zur Auswahl der Patienten für die häufig retrospektiven Studien zur Leitlinienumsetzung sind dabei leistungsfähige Tumorregister hilfreich; die klinischen und behandlungsbezogenen Daten müssen dann zur Auswertung aus den einzelnen Krankenakten entnommen werden [OTTEVANGER et al., 1999], da eine so detailierte Tumordokumentation, die eine Bewertung der Übereinstimmung der Therapie mit Empfehlungen zulässt, mit den bisherigen Dokumentationsstandards für Register [ALTMANN et al., 2000] nicht möglich ist. Dies setzt entsprechende organisatorische und rechtliche Rahmenbedingungen und auch eine Vertrauensbasis zwischen den Kliniken und den Personen, die die Daten erheben und auswerten, voraus.

4.4      Tumordokumentation durch die Tumorzentren

Auch bei der Tumordokumentation spielen die regionalen Tumorzentren eine wesentliche Rolle. Nach Tabelle 6 verfügen etwa zwei Drittel (22 von 34) der Tumorzentren über ein Tumorregister. Nach einer Umfrage der ADT [SAUER, 1999] erfassen 34 von 43 ihrer Mitgliedern zusammen etwa ein Drittel der in Deutschland zu erwartenden Krebsfälle. Allerdings fand diese Umfrage bereits 1997/1998 statt, und entsprechend den Vorgaben des Krebsregistergesetzes [Bundesrepublik Deutschland, 1994] und den länderspezifischen Ausführungsgesetzen ist damit zu rechnen, dass der Anteil der erfassten Krebsfälle seither gestiegen ist. Immerhin lassen 17 von 22 Tumorzentren (77 %) im Internet erkennen, dass sie die Tumorregistrierung als ihre Aufgabe betrachten, und obwohl beispielsweise das Tumorzentrum Bonn sie nicht erwähnt, wurden bereits 1994 Daten zum Kolon- und Rektumkarzinom im gesamten Einzugsbereich populationsbezogen erfasst [MEZGER et al., 1997].

Die Tumordokumentation ist also in Deutschland in einem Entwicklungsprozess, mit teilweise erstaunlicher Dynamik. Um Ressourcen sinnvoll einsetzen zu können, Investitionen langfristig nutzbar zu machen und die Kooperation zwischen den Registern und anderen Organisationen zu vereinfachen sollte dabei auf die rechtzeitige Erstellung und Anwendung von Kommunikationsstandards geachtet werden. Dazu bietet sich die modulare Tumordokumentation an, die als Basisdokumentation im Auftrag der ADT, des Bundesministeriums für Gesundheit und der Deutschen Kresgesellschaft e.V. herausgegeben wird [DUDECK et al., 1999] und um eine organsspezifische Dokumentation ergänzt werden kann [WAGNER und  HERMANEK, 1995]. Dabei wird auch auf verschiedene internationale Klassifikationen zurückgegriffen. Ein auf diesen Standards basierendes Dokumentationssystem ist das insbesondere im Osten und Norden Deutschlands von den Tumorregistern verwendete Gießener Tumordokumentationssystem. Es unterstützt die Erfassung und Übertragung von Daten nach diesem Standard, und bietet, bei ebenfalls modularem Aufbau, verschiedene einsatzspezifische Zusatzfunktionen [ALTMANN et al., 2000]. Ein ähnliches System wurde auch vom Tumorzentrum Hannover unter dem Namen Hannoversches Informationssystem für Tumordaten (H.I.T.) entwickelt. Detaillierte Beschreibungen der Systemkomponenten, der Datensatzbeschreibungen und der Datenschnittstelle können im Internet abgerufen werden (http://www.mh-hannover.de/­einrichtungen/­tumorzentrum/HIT_START.HTML]. Bezüglich der Dokumentation von Chemotherapien sind die dort beschriebenen Datensätze jedoch wenig detailliert: Die Therapiedokumentation enthält zur Chemotherapie fünf mit je einer Ziffer kodierte Felder (durchgeführt, von wem, wann begonnen, Zielsetzung, Ergebnis), bei Sekundär­manifes­tatio­nen gibt es nur noch ein Feld für Behandlungsarten mit einem Code für Chemotherapie. Bei bestimmten Stadien von einigen Tumorerkrankungen ist es jedoch durchaus möglich, mit diesen Angaben eine Kontrolle der Leitlinienkonformität durchzuführen. Besonders bedeutsam ist, dass ein einfacher Rückgriff auf Informationen aus der klinischen Dokumentation und auch Rückfragen bei den behandelnden Ärzten möglich sind, da auch die für ein Projekt speziell erweiterte Tumordokumentation eines klinischen Registers nicht alle Gründe erfassen kann, aus denen von Empfehlungen abgewichen wird. So zeigten sich bei der bereits relativ detaillierten Dokumentation der Sicherheitsabstände bei Exzision von Melanomen nach dem Hannoverschen Informationssystem für Tumordaten zwar auffallend häufig Abweichungen nach unten, diese wurden jedoch einzeln abgeklärt und konnten dann nachvollziehbar begründet werden, sodass die Umsetzung der Leitlinien diesbezüglich als gut bezeichnet werden konnte [TUMORZENTRUM HANNOVER, 2000].

Besondere Aufmerksamkeit muss bei der Dokumentation der Trennung zwischen verschiedenen Tumorstadien gewidmet werden. Die Basisangaben dafür werden sowohl im Gießener Tumordokumentationssystem als auch im Hannoverschen Informationssystem für Tumordaten erfasst: Histologie, TNM-Stadium, Sonderfelder für den Befall und die Lokalisation von befallenen regionären Lymphknoten und von Metastasen. Für die Kontrolle der Übereinstimmung der Therapie mit Leitlinien ist die korrekte Stadieneinteilung zumeist Voraussetzung, da sich die Empfehlungen für die einzelnen Stadien stark unterscheiden. Allerdings muss sie standardisiert und kontrolliert erfolgen, insbesondere falls ein Vergleich der Therapieerfolge zwischen verschiedenen Institutionen, Regionen oder Versorgungs­syste­men gewünscht ist. Dies gilt auch für den epidemiologischen Vergleich des Quotienten aus Mortalität und Inzidenz als Prognoseindikator, denn wenn z.B. bestimmte Patienten einem höheren, prognostisch schlechterem, Tumorstadium zugeordnet werden, führt dies statistisch zu einer Prognoseverbesserung in beiden Gruppen.

Für eine korrekte Erfassung dieser Stadien ist vermutlich in vielen Fällen Fortbildung für die erfassenden Ärzte notwendig. Da die Stadienfestlegung sowohl für die Dokumentation als auch für die leitlinienkonforme Therapie essentiell ist, kann sie auch in einer Fortbildungsveranstaltung mit dem Schwerpunkt Therapieoptimierung abgehandelt werden, die einen individualmedizinisch orientierten Kliniker in der Regel mehr interessieren dürfte als die korrekte Dokumentation für das Krebsregister.

4.5      Perspektiven der detaillierten Tumordokumentation

IRWING und ARMSTRONG [2000] kommen wegen der Fehlerquellen bei der Interpretation von Registerdaten, die z.B. durch Unterschiede im Staging verursacht werden, und aufgrund des mit der Dokumentation und Datenauswertung verbundenen Aufwands und der Zeitverzögerung bis zum Vorliegen interpretierbarer Resultate zu dem Schluss, dass mehr Wert auf die Verbesserung von Abläufen (Prozessen) mit bereits weitgehend gesicherter positiver Wirkung als auf eine noch ausgefeiltere Registrierung gelegt werden sollte. Einerseits erscheint diese Kritik an einer aufwendigen Dokumentation, die oft Lücken aufdeckt, die vielen Beteiligten ohnehin schon bekannt sind, zwar nachvollziehbar, dabei wird jedoch nicht berücksichtigt, dass der Aufwand für eine flächendeckende und sorgfältige therapiebegleitende Tumordokumentation [ADT, 1999] unter einem Prozent der durch die Krankenkassen zu tragenden Kosten für Tumorerkrankungen liegt [KOOPMANSCHAP et al., 1994], und dass bei über 1 300 000 Krebsfällen jährlich in der Europäischen Union auch relativ kleine Änderungen im Therapiemanagement bereits zu großen Kosteneinsparungen oder Mehrausgaben führen können. Es gibt auch Hinweise darauf, dass Registrierungsaktivitäten zu verbesserten Therapieprozessen und sorgfältigerer Ressourcennutzung führen [BERRINO et al., 1999]. Der Aufwand für länderübergreifende Datenauswertungen, die von IRWING und ARMSTRONG als zu aufwendig kritisiert wurden, ist selbst in Anbetracht der Gesamtkosten für die Tumorregistrierung vergleichsweise gering (europaweit vermutlich wenige Personenjahre), trotz des großen Umfangs der daraus resultierenden Werke (572 Seiten im Fall einer Publikation der International Agency for Research on Cancer [IARC]) und obwohl der gesamte Datenumfang und die vielen Vergleichsmöglichkeiten sicher nur von wenigen Wissenschaftlern benötigt werden. Jedoch sollte bei der Präsentation von Daten aus Krebsregistern darauf geachtet werden, dass Umfang (z.B. beschränkt auf Regionen oder Tumorarten) und Medientyp (Bücher, Broschüren, CDs, HTML-Dokumente, online-Datenbanken) mit möglichst geringem Aufwand für die Bedürfnisse unterschiedlicher Zielgruppen angepasst werden können (Vermeidung von „Medienbrüchen“ / „Cross Media Production“) [APPELRATH et al., 1996].

Allerdings wird eine einheitliche europäische Tumorregistrierung und -datenaufbereitung, die einer Region, einer Klinik oder anderen Interessierten (nach datenschutzrechtlicher Prüfung) ermöglicht, detaillierte Statistiken über Mortalität, Inzidenz und auch diagnostische und therapeutische Maßnahmen bedarfsgerecht abzurufen, voraussichtlich noch einige Jahre auf sich warten lassen, obwohl das SEER-Projekt in den USA diesem Ziel mit der Bereitstellung von 3,7 Millionen anonymisierten Datensätzen und einer komfortablen Auswertungssoftware schon sehr nahe kommt. Bis ein solches System auch in Europa nutzbar ist, wäre es jedoch sinnvoll, wenn die Tumorzentren schon vorher mehr Informationen aus ihren Registern verbreiten würden, denn die Präsentation regionaler Resultate kann vermutlich die Motivation der klinisch tätigen Ärzte, die ihre knappe Zeit für erweiterte Dokumentationsaufgaben und Meldungen nutzen, wesentlich mehr steigern als umfangreiche nationale oder internationale Gesamtauswertungen. Dass nur 9 der 34 untersuchten Tumorzentren (26 %) überhaupt eine Angabe zu den bei ihnen registrierten Krebsfällen machen (sieheTabelle 6), ist auch aus diesem Grund sehr bedauerlich. Kaum jemand wird Dokumentation als wichtigen Teil seiner Tätigkeit ansehen, wenn er keine Ergebnisse dieser Arbeit mitgeteilt bekommt. Dieser mögliche direkte Feedback ist wesentlicher Vorteil eines regionalen Erfassungssystems, wie es in Deutschland, und selbst im traditionell sehr zentralistischen Frankreich [CHVETZOFF et al., 2000], in Form der Tumorzentren entwickelt wird.

4.6      Maßnahmen zur Verbesserung des Nutzens von Leitlinien

Leitlinien müssen, um wirklich eine optimale Therapie für Patienten bewirken zu können, ausreichend aktuell sein, also den Stand des Wissens widerspiegeln. In einer Untersuchung von SHEKELLE und Mitarbeitern [2001] waren nach etwa 3 ½ Jahren 10 Prozent und nach 6 Jahren die Hälfte der dort untersuchten 17 Leitlinien nicht mehr als zeitgemäß zu betrachten. Allerdings waren darin keine Leitlinien zur Tumortherapie eingeschlossen. Gerade auf dem Gebiet der Chemotherapie gibt es ständige Neuerungen, wie vorliegend am Beispiel des Kolonkarzinoms (Kapitel 3.3, Seite 38 ff) und des kleinzelligen Bronchialkarzinoms (Kapitel 3.4, Seite 40 ff) gezeigt werden konnte. Es gab beispielsweise bezüglich der Bewertung von monoklonalen Antikörpern zur Therapie des Kolonkarzinoms eine deutlich rascherer Entwicklung. In den Leitlinien von 1998 wurde CK17-1/A noch bei Kontraindikationen gegen 5-FU empfohlen (TZ Oldenburg) oder als Therapiemöglichkeit erwähnt (TZ Berlin). Das ISTO empfahl es in den 1999 erschienenen gedruckten Leitlinien ebenfalls noch.

Der Grund für diese sukzessive völlige Entfernung von Hinweisen auf diesen monoklonalen Antikörper ist leider aus keiner der neueren Leitlinien ersichtlich. Dass diese Empfehlungen bzw. Darstellungen als Therapiealternative auf einer einzigen deutschen Studie mit 189 Patienten basierte, und dass die Untergruppen Kolon- und Rektumkarzinom in dieser Studie zu klein waren, um in ihnen einzeln einen signifikanten Unterschied festzustellen, wurde nicht in den vorliegend untersuchten deutschen Leitlinien erwähnt, sondern muss beispielsweise einer kanadischen Leitlinie (FIGUEREDO et al., 1997) entnommen werden. Andererseits enthält eben diese kanadische Leitlinie einen Nachtrag vom April 2000, in dem berichtet wird, dass von eben dieser Studie erneute Langzeitergebnisse mit einer Mortalitätssenkung von 32 % (p=0,01) nach im Median 7 Jahren Nachbeobachtung erschienen sind. Das Tumorzentrum Erfurt erwähnt hingegen in der Leitlinie von August 2000, dass die Zulassung von CK17-1/A zur „alleinigen adjuvanten Gabe“ im Juni 2000 zurückgenommen wurde, da die Ansprechraten deutlich unter denen der adjuvanten Chemotherapie mit 5-FU und Folinsäure lagen (wiederum ohne Angabe einer Literaturreferenz). Darauf findet sich wiederum in der kanadischen Leitlinie kein Hinweis – so dass dort CK17-1/A weiterhin als gute Therapiealternative erscheint.

Der Kliniker bleibt jedenfalls auch nach der Lektüre deutlich divergierenden Aussagen in acht Leitlinien mit dem Problem, wie er einen Patienten mit Kontraindikationen gegen 5-FU behandeln soll, ohne brauchbare Entscheidungs­grundlage; es bleibt unklar, mit welcher Wahrscheinlichkeit sich ein Therapieversuch mit monoklonalen Antikörpern doch lohnen könnte, ob es dazu laufende Studien gibt, ob andere Therapieformen als die „alleinige adjuvante Gabe“ untersucht wurden, oder wo er zumindest die der Rücknahme der Empfehlung bzw. Zulassung zugrundeliegende Literatur finden kann. Gerade weil es sich nach den ursprünglichen Beschreibungen dabei um eine relativ nebenwirkungsarme Therapieoption handelt, wäre es durchaus denkbar, dass eine solche Entscheidung bei einem Patienten getroffen werden muss, für den eine Verlegung in ein onkologisches Zentrum der Maximalversorgung nicht mehr infrage kommt. In solchen Fällen können Angebote wie jenes des Tumorzentrums Ulm eine Hilfe sein, wo explizit erwähnt wird, dass nach Zusendung von Unterlagen auch Fragen über das therapeutische Vorgehen bei externen Patienten in den wöchentlichen Konferenzen interdisziplinär behandelt werden, und dass der anfragende Arzt, ohne je selbst anwesend zu sein, einen Bericht über die Meinungen der Konferenzteilnehmer zugesandt bekommt. Dieses Verfahren führt zwar vermutlich nicht zu Klarheit im Sinne der evidenzbasierten Medizin, kann aber für die Therapie von bestimmten Patienten durchaus hilfreich sein.

Es ist auch wenig sinnvoll, beispielsweise in der Leitlinie des Tumorzentrums Berlin eine Studie mit CK17-1/A zu erwähnen, diese Leitlinien dann aber 3 Jahre lang nicht zu überarbeiten, obwohl sich in dieser Zeit Datenlage wesentlich geändert hat, und nicht anzunehmen ist, dass die dort erwähnte Studien weiterhin Patienten rekrutiert.

Bei der ISTO-Leitlinie zum Kolonkarzinom fiel die unprofessionelle Handhabung der Revisionsdaten auf: Die gedruckte Version trägt das Erstellungsdatum („Fassung vom:“) Februar 1999 und als Datum einer geplanten Revision Februar 2000. Die Online-Version hingegen gibt sich als Fassung von Oktober 1999 aus; dort wurde im März 2001 (datiert 22.09.00) noch „Revision geplant für Februar 2001“ angegeben, im September 2001 hingegen „Frühjahr 2002“. Im Abschnitt über Palliativmaßnahmen (7.) unterscheiden sich die Versionen jeweils bezüglich der Chemotherapiemöglichkeiten. Der Punkt 6.4. weist in beiden Online-Versionen einen unschönen Formatierungsfehler und eine Inhaltswiederholung mit falscher Wortstellung in einem Satz auf, was sicher nicht das Vertrauen des Klinikers in die übrigen Angaben stärkt. Inhaltlich unterscheiden sich die Versionen nur in einem Zusatz („als Bolus“), unterschiedlicher Interpunktion und teilweise arabischen Ziffern statt ausgeschriebenen Zahlworten. Jedenfalls muss befürchtet werden, dass bei dieser Art des offenbar manuellen Übertrags in die internetfähigen Dateien (PDF Format) Fehler unterlaufen, die gravierende Konsequenzen für Patienten, aber auch rechtliche Konsequenzen für Ärzte haben können.

Auch die Begriffswahl von Leitlinien ist verbesserungswürdig. So fällt auf, dass die Leitlinien der Deutschen Krebsgesellschaft zur Therapie des kleinzelligen Lungenkarzinoms bei der Beschreibung der Chemotherapieschemata INN-Substanzbezeichnungen (International Nonproperty Names) und Warenzeichen von Pharmaka unterschiedslos nebeneinander benutzen (entsprechend dem „Klinikjargon“, der sich auch in gebräuchlichen Abkürzungen niederschlägt); mit „Adriamycin“ (INN: Doxorubicin) und „CPT-11“ (INN: Irinotecan) werden sogar Bezeichnungen verwendet, die weder dem Substanznamen noch dem Namen eines in Deutschland zugelassenen Präparats entsprechen.

4.7      Verbreitung von medizinischem Wissen – Entwicklungen und Perspektiven

Der klassische Kommunikationsweg für allgemeines medizinisches Wissen basiert im wesentlichen auf Fachzeitschriften, Büchern und Kongressen. Aber auch die von Firmen der pharmazeutischen Industrie zur Verfügung gestellten Informationen spielen seit langem eine wesentliche Rolle.

Für eigenverantwortlich handelnde Ärzte oder Forscher ist es wichtig, dass sie Meinungen und Empfehlungen mit möglichst geringem Aufwand anhand von eigenen Daten und Publikationen anderer Wissenschaftler nachvollziehen oder überprüfen können. Für den einfachen Zugriff auf die Daten aus dem eigenen Bereich könnten regionale Tumorregister die online-Datenabfragen ermöglichen eine wesentliche Hilfe sein. Theoretisch wäre sogar ein Registersystem möglich, das Zugriff auf Befunde und durchgeführte oder geplante therapeutische oder diagnostische Maßnahmen direkt nach Erfassung ermöglicht durch jeden, der ein berechtigtes Interesse an diesen Daten hat. Allerdings wird es wohl noch viele Jahre Dauern, bis sich Schnittstellenstandards so etabliert haben, dass tatsächlich auf alle relevanten Daten von überall aus zugegriffen werden kann [DUDECK, 1998], bis Strukturen der Datenverwaltung etabliert sind, die allen Aspekten des Datenschutzes genügen, und bis vor allem die beteiligten Personen so geübt im Umgang mit derartigen Systemen sind, dass ihre Nutzung und insbesondere die effektive Kontrolle keine wesentliche Belastung mehr darstellen. Gerade in Bezug auf Datenschutz sollte auch keinesfalls etwas gegen entschiedene Widerstände forciert werden, denn dies verstärkt irrationale Ängste. Es macht aber auch anfälliger gegen reale Gefahren, wenn Beteiligte mit bestimmten Aufgaben nicht von der ausreichenden Sicherheit des Gesamtsystems überzeugt sind und sich nicht zugleich darüber im klaren sind, dass es immer Möglichkeiten geben wird, unautorisiert an Daten zu gelangen, wenn von den Zugriffsberechtigten gewisse Sicherheitsregeln nicht eingehalten werden. Prinzipiell kann jedoch eine passwortgeschützte und kodierte Datenbank mindestens so sicher sein wie ein Visitenwagen im Stationszimmer.

Obwohl beispielsweise das Angebot der Tumorzentren Mainz und Göttingen zu begrüßen ist, für Interessierte eine Literaturrecherche gegen geringen Unkostenbeitrag zu leisten, sind für den Zugriff auf spezielle Publikationen in Anbetracht der bereits einleitend erwähnten Menge an Neuerscheinungen nach dem gegenwärtigen Stand der Technik Computernetze, insbesondere das Internet, vorzüglich geeignet, denn ein Bezug aller relevanten Fachzeitschriften ist nur für wenige Referenzbibliotheken in großen Zentren möglich, und auch dort ist die Lagerung der Zeitschriften und der Beschaffungsaufwand für einen einzelnen Artikel verglichen mit dem Abruf über ein Computernetzwerk sehr groß. Der Zugriff auf alle wesentlichen Fachzeitschriften ist heute kein technisches Problem mehr, sondern vor allem ein lizenzrechtliches. Einige Fachzeitschriften werden gratis im Internet verbreitet (http://www.highwire.org/lists/freeart.dtl), jedoch sind auch Verlage Wirtschafts­unternehmen, die für die von ihnen verbreiteten Informationen prinzipiell eine Bezahlung fordern müssen. Erfreulicherweise haben beispielsweise einige Universitäten Verträge abgeschlossen, die deren Mitarbeitern und Studenten die kostenfreien elektronischen Zugriff auf die Artikel ermöglichen. So wurden auch über zwei Drittel der in vorliegender Magisterarbeit zitierten Fachartikel über das Internet im PDF-Format bezogen. Sie können bei Interesse für die nach dem Urheberrecht zulässigen Zwecke vom Autor auf Anfrage erhalten werden. Ein etabliertes System zur bequemen Zahlung von Kleinbeträgen existiert jedoch im Internet noch nicht, und daher ist der Zugriff auf Publikationen, die nicht von einem Pauschalvertrag einer größeren Institution abgedeckt sind, aufwendig und kostenintensiv. Die eigentlichen Urheber der Artikel haben zwar ein Interesse an einer weiten Verbreitung ihrer Publikationen und an einfachem und kostengünstigem Zugriff auf die Werke ihrer Kollegen, sie haben aber ihre Verwertungsrechte zumeist an die Fachverlage abtreten müssen. Gerade für kleinere Institute oder selbständige Forscher ist eine Archivierung von Zeitschriften auch mit erheblichem Aufwand verbunden. Insofern ist der Appell – verbunden mit einer Boykottdrohung – von mehr als 26.000 Wissenschaftlern vor einigen Monaten an die Verlage, Artikel spätestens ein halbes Jahr nach Erscheinen in einer kostenlosen, querverlinkten Datenbank zur Verfügung zu stellen, verständlich [von GRÄTZ, 2001]. Ein für viele Verlage gangbarer Kompromiss scheint sich nun dadurch abzuzeichnen, dass mehr als ein halbes oder ein Jahr alte Artikel umsonst bezogen werden können, für den Zugriff auf Neuerscheinungen jedoch entweder die Zeitschrift in gedruckter Form abonniert werden muss, oder für den elektronischen Zugriff eine Summe in vergleichbarer Höhe bezahlt werden muss. Dabei sind unterschiedliche Preise und Vertragsmodelle in Erprobung, wie auf den Internetseiten der wissenschaftlichen Fachverlage ersichtlich ist.

Für die Überprüfung von Leitlinieninhalten wäre es nützlich, wenn alle Referenzen „per Mausklick“ einsehbar und bei Bedarf druckbar wären. Dazu ist einer einheitlicher Standard zur Beschreibung von Dokumenten und deren Lokalisation notwendig. Ein vielversprechender Ansatz in diesem Bereich sind die Definitionen der Dublin Core Metadata Initiative (http://dublincore.org/). 

4.8      Grenzen der leitlinienbasierten Therapie

Die Medizin versteht sich traditionell nicht nur als Wissenschaft, sondern auch als Kunst mit Raum für individuelle Gestaltungsmöglichkeiten. Ebenso spielen persönliche Überzeugungen, sowohl von Patienten als auch von Ärzten, in ihr eine große Rolle. Gerade in Bereichen, in denen keine verlässliche Ursachen-Wirkungs-Beziehung feststellbar ist – und diese sind in der Onkologie häufig – ist es unrealistisch zu fordern, dass betroffene Patienten und persönlich engagierte Ärzte sich mit einer Therapie, die sich auf das gegenwärtig wissenschaftlich Gesicherte beschränkt, zufrieden geben. So lässt sich auch das Phänomen erklären, dass 1996 das Mistelpräparat Iskador® 559 200 mal verordnet wurde, mit Kosten von 32,5 Millionen DM, obwohl trotz mehr als 70-jähriger Anwendung und (zumeist unsystematischer) Forschung keine befriedigenden Ergebnisse zu dessen Wirksamkeit, oder zu den Situationen, in denen ein Einsatz sinnvoll ist, vorliegen [Münstedt et. al., 2000] (siehe Einleitung, 1.2.1). Zwar wurden in einem Review von KLEIJNEN und KNIPSCHILD [1994] 11 Studien ausgewertet, von denen 4 ein signifikantes und 6 ein nicht-signifikantes Ergebnis zu Gunsten der mit Mistelpräparaten behandelten Patienten hatten, jedoch hatten fast alle Studien ernsthafte methodische Mängel, und keine war doppelblind.

Leitlinien werden besonders häufig bei älteren Menschen nicht beachtet [HÉBERT-CROTEAU et al., 1999; MOR et al., 2000; SAWKA et al., 1997; VOOGD et al., 2000]. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass die behandelnden Ärzte der Ansicht sind, dass bei diesen oft multimorbiden Patienten die Nebenwirkungen der Therapie den zu erwartenden Nutzen überwiegen. Beispielsweise erhielten in der Studie von MOR und Kollegen nur etwa ein Drittel der Patientinnen über 80 Jahren nach brusterhaltender Chirurgie wegen Mammakarzinoms eine Bestrahlung, obwohl deren Nutzen als erwiesen gilt. Bei über 90 % der Patientinnen unter 70 Jahren wurde die Bestrahlung hingegen durchgeführt. Offenbar sind also die Therapieleitlinien durchaus bekannt, allerdings gehen die Ärzte davon aus, dass sie in der Regel bei über achtzigjährigen Patientinnen nicht anzuwenden seien. Auch aus Studien von SAWKA (et al., 1997) und Hébert-Croteau (et al., 1999) lässt sich ableiten, dass bei älteren Brustkrebspatientinnen Therapieempfehlungen wesentlich seltener beachtet werden, und dass sie, unabhängig von ihren Begleiterkrankungen, weniger aggressiv behandelt werden, ohne dass dafür eine rationale Ursache erkennbar ist. Dem ließe sich dadurch begegnen, dass in den Leitlinien klar aufgeführt würde, welche Maßnahmen auch in hohem Lebensalter und bei Begleiterkrankungen noch ein relevantes Überwiegen des Nutzens über die Nebenwirkungen erwarten lassen. Die Information, dass ein Nutzen „signifikant“ nachgewiesen wurde, ist dabei wenig hilfreich, da je nach Fallzahl und Studiendesign auch Unterschiede ohne praktische Relevanz statistisch signifikant sein können. Bei einer solchen Abwägung muss jedoch gerade bei älteren Menschen berücksichtigt werden, dass sie meistens eine Therapie im vertrauten Umfeld wünschen, und dafür auch bereit sind, auf bestimmte diagnostische oder therapeutische Maßnahmen bewusst zu verzichten, wenn diese nur geringe Aussicht auf Heilung oder Lebensverlängerung haben. Dies darf aber keinesfalls so aufgefasst werden, dass sie z.B. generell keine Chemotherapie wünschen, selbst wenn davon auszugehen ist, dass der Nutzen die Nebenwirkungen übersteigt. Leider sind in vielen klinischen Studien ältere Patienten ausgeschlossen. Beispielsweise bedeutet der Ausschluss von Patienten über 75 Jahren in 3 von 4 für deutsche Patienten angebotenen Phase-III-Studien zum Kolonkarzinom in der Datenbank des National Cancer Institutes (http://cancernet.nci.nih.gov/), dass etwa 35 % der Frauen und 30 % der Männer bereits bei Diagnosestellung von der Studienteilnahme ausgeschlossen sind. Etwa 20 % der Kolonkarzinome werden sogar im Alter von über 80 Jahren diagnostiziert, was das maximale Alter für die vierte Studie ist. Da in diesen Studien fortgeschrittene Tumorstadien behandelt werden, ist der Anteil der aufgrund des Alters ausgeschlossenen Patienten vermutlich noch größer, da beispielsweise zwischen der Erstdiagnose und einer Progression im Median noch etwa 15 Monate verstreichen. (Angaben zur Epidemiologie des Kolonkarzinoms in diesem Abschnitt aus dem Tumorregister München [HÖLZEL et al., 1996].)

4.9      Methodenkritik und Ausblick

Vorliegend wurde hauptsächlich auf Leitlinien von medizinischen Fachgesellschaften oder solchen, die in Fachzeitschriften publiziert wurden, eingegangen. An vielen Kliniken, insbesondere an Universitätskliniken und Lehrkrankenhäusern, besteht jedoch auch ein System zur Erstellung von „internen Leitlinien“. Nach der in der Einleitung erwähnten Definition von GRIMSHAW und RUSSELL [1993] sind solche, zumeist von Assistenzärzten in Ordnern dokumentierten und kopierten (jedoch auch zunehmend im Intranet der Ein­richtung bereitgestellten) Texte und Schemata durchaus Leitlinien im eigentlichen Sinne, sofern tatsächlich ein systematischer Entwicklungsprozess angewandt wird. Dabei sollte, aufgrund der in der Regel geringen finanziellen und personellen Ressourcen, insbesondere darauf geachtet werden, dass Leitlinien von anderen (zumeist übergeordneten) Institutionen angemessen und zeitnah berücksichtigt werden. Die „besonderen klinischen Umstände“ können gerade auf der Ebene von Kliniken, bzw. zunehmend von Klinikverbänden, in interdisziplinären Konferenzen gut herausgearbeitet und folglich berücksichtigt werden. Ein weiterer Vorteil dieser „internen Leitlinien“ gegenüber nationalen Leitlinien oder solchen aus wissenschaftlichen Fachzeitschriften besteht darin, dass ihre Erarbeitung und die Verbreitung unter den beteiligten klinisch tätigen Personen simultan stattfinden, und dass teilweise Kontrollmechanismen bestehen und sich weiterentwickeln, um die Leitlinienkonformität der Entscheidungen zu sichern, z.B. interdisziplinäre Konferenzen mit Fallbesprechungen, Fachgespräche bei Visiten, Einführung neuer Kollegen, Weitergabe von Arztbriefen mit Kopien der Leitlinien.

Leitlinienumsetzung sollte ein dynamischer Prozess sein, wobei insbesondere die Reaktionen der mit der Umsetzung betrauten Personen berücksichtigt werden müssen. Defizite müssen erkannt werden, um dann nach Gründen zu suchen und Gegenmaßnahmen zu entwickeln.

In der Medizin, und in besonderer Weise in der Therapie prognostisch ungünstiger Krebserkrankungen, darf vor allem nie aus dem Auge verloren werden, das der einzige Zweck aller Maßnahmen das Wohl des hilfesuchenden Patienten ist. Professionelle, wissenschaftlich fundierte medizinische Hilfe ist dabei ein wichtiger Teil, der aber auch nicht überschätzt werden sollte. Die Betreuung durch vertraute Menschen (z.B. Familienmitglieder, Seelsorger, Hausärzte), die Möglichkeit, Entscheidungen auch nach eigenem Gutdünken fällen zu dürfen, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen, sich aber auch entsprechend den eigenen Bedürfnissen jederzeit informieren zu können, und ein Gefühl der Geborgenheit und des Vertrauens in die Zukunft spielen für das Wohl des Patienten eine ebenso wichtige Rolle. Die Voraussetzungen dafür zu schaffen erfordert viel Erfahrung, Wissen und Kooperationsbereitschaft. Hilfestellungen dazu klingen jedoch in Leitlinien in der Regel nur zwischen den Zeilen an. Einige der Tumorzentren sehen offenbar solche Aspekte der Patientenversorgung auch als eine ihrer wesentlichen Aufgaben an und bieten daher beispielsweise psychoonkologische bzw. psychosoziale Beratung an (14 von 34, darunter 8 ohne Angaben über selbst herausgegebene Leitlinien) oder organisieren bzw. vermitteln Kontakt zu Selbsthilfegruppen (ebenfalls 14 von 34, darunter 7 ohne eigenes Leitlinienangebot).